Mein außerordentlich begabter Schüler Julius F. nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn es um die Bewertung meiner Fotos von der gemeinsamen Reise nach Guangzhou geht. „Warum fotografieren Sie Kisten?“ „Ich habe eine Scheu, Menschen zu fotografieren.“ „Das mag ja sein. Aber Frau Kraemer, Kisten sind doch nicht die Lösung!“
Ich verspreche eine Erklärung.
Kisten sind ästhetisch ansprechende Objekte, oder nicht? Eine Handvoll Pappkartons steht, von einem Absperrband umgeben, im Guangdong Art Museum in der Ausstellung 后笔墨时代:中国式风景 Post-Brushwork Era: Chinese Landscapes. Als wäre der Platz im Museum nicht genug, wird diese Kistenlandschaft durch das Absperrband als Kunst gekennzeichnet. Für das Reinigungspersonal oder für die Besucher?
Kisten sind aber nicht nur Form, eigentlich sind sie vor allem Inhalt, nur, dass dieser Inhalt eben verborgen ist und oft genug nicht dem entspricht, was als Aufschrift auf der Kiste steht. Der Inhalt der Kiste wird verschickt und transportiert, kommt an einen anderen Ort, vielleicht zu anderen Menschen.
Vor fast 30 Jahren standen in den zu kleinen Wohnungen der chinesischen Freunde meiner Studienzeit in Shanghai Kisten auf den Schränken. Im Zimmer des jungen Freundes aus Eritrea auch. Improvisierte Möbelstücke. Waren die Kisten im Museum also entsprechend eine improvisierte Landschaft?
Kisten haben das Temporäre der zweckmäßigen Verpackung für einen Transport – nicht der schönen Geschenkverpackung. Zugleich haben sie etwas Schäbiges an sich als Aufbewahrung für das Abgelegte, für das selten oder nicht mehr Gebrauchte, oftmals für die allerpersönlichsten Dinge.
Weil es mir unangenehm ist, Menschen zu fotografieren, fotografiere ich Kisten. Für mich ist das vielleicht eine Lösung.